ASMR und Mukbang: Was hinter dem Youtube-Hype steckt (2024)

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Auf Youtube werden Videos, in denen Menschen sich beim Essen filmen, millionenfach geklickt. Das Phänomen nennt sich ASMR und soll zur Entspannung beitragen. Was steckt dahinter?

Corinne Plaga und Matthias Sander (Seoul)

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Der junge Mann mit gelber Adidas-Jacke flüstert vorfreudig ins Mikrofon. Sein Gesicht ist in Nahaufnahme zu sehen. «Hey, Leute, ich bin es wieder, euer Dennis aus Berlin. Heute gibt es eins meiner Lieblingsessen.» Vor ihm aufgetürmt sind sechs Bockwürste und ein grosser Haufen Kartoffelsalat. Genüsslich beisst er in die erste knackige Wurst mit Senf und schmatzt ins Mikrofon. Jedes kleinste Geräusch, das er beim Essen macht, ist deutlich und laut zu hören. Gut zwanzig Minuten dauert das Video. Dann ist der Teller vor ihm fast leer.

Der junge Mann heisst Dennis Hodel, und er ist einer von Hunderten Youtubern, die sich auf Food-ASMR spezialisiert haben. ASMR ist die Abkürzung für Autonomous Sensory Meridian Response, ein Phänomen, für das es bis jetzt keine sinnvolle deutsche Übersetzung gibt. Auf Youtube finden sich unzählige solcher Videos, bei denen Menschen sich beim Essen filmen, zwischendurch flüstern und die Kau- und Schmatzgeräusche besonders in den Vordergrund stellen. Manche dieser Videos haben Millionen Aufrufe und Tausende Kommentare.

Dabei ist ASMR kein neues Phänomen. Bereits ab 2012 sind die Suchanfragen bei Google für das Thema rasant gestiegen. Immer mehr Youtuber und Influencer haben erkannt, dass sie mit solchen recht simplen Videos leichtes Geld verdienen können. In Zusammenhang bringt man ASMR vor allem mit Flüstern. Das leise Sprechen soll ein «Kopfkribbeln» auslösen und zur Entspannung des Zuhörers beitragen. Manchen dient dies sogar als Einschlafhilfe.

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Der Youtuber Dennis Hodel isst für uns eine kleine Köstlichkeit. Was ist es? Die Auflösung finden Sie am Ende des Textes.

ASMR und Mukbang: Was hinter dem Youtube-Hype steckt (1)

Was löst ASMR aus?

Eine Studie derUniversity of Sheffield und der Manchester Metropolitan University fand heraus, dass diejenigen, die ASMR ausprobierten, während der Sitzungen signifikante Senkungen der Herzfrequenz aufwiesen im Vergleich zu denen, die die Videos nicht gesehen haben. Auch zeigten die Probanden einen deutlichen Anstieg positiver Emotionen, Entspannung und ein Gefühl des sozialen Eingebundenseins.

Nicht jeder, der solche ASMR-Videos zum ersten Mal schaut, empfindet ein positives Gefühl dabei. Die Reaktionen können von Ekel und Abneigung bis hin zu Aggression und Wutgefühlen reichen. Andere wiederum werden hungrig beim Anblick von Food-ASMR. Manche finden solche Videos einfach nur langweilig oder fragen sich, was das Ganze soll. Die Bandbreite der Reaktionen ist gross, und gerade deshalb ist dieser wachsende Trend so spannend.

Hodel macht seit zehn Jahren Videos und hat sich selbst von ASMR inspirieren lassen. «Anfangs fand ich das freakig, aber dann dachte ich: Mich beim Essen zu filmen, das kann ich!» Mittlerweile sind seine Youtube-Clips unter dem Kanal German Freak ASMR zu einem zusätzlichen Standbein geworden, wie der 34-Jährige am Telefon sagt. Beruflich ist er im Marketing tätig. Sein bisher erfolgreichstes Video, das mehr als 160000 Aufrufe hat, zeigt ihn, wie er einen Döner Kebab mit Pommes verputzt. Die meisten seiner Zuschauer kämen aus dem Ausland, doch auch die Community im deutschsprachigen Raum wachse.

Nach der Spannung folgt die Entspannung

Aufgrund der steigenden Popularität von ASMR interessiert sich auch die Wissenschaft seit einiger Zeit für das Phänomen. Einer, der sich bereits intensiv mit den Videos und deren Wirkung beschäftigt hat, ist der deutsche Psychologe Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg. Er finde es spannend, dass Menschen die Videos millionenfach anschauten, obwohl sie teilweise sehr langwierig seien und im Grunde nicht viel passiere. «Für die meisten Menschen sind diese Videos beim ersten Anschauen unglaublich aversiv», sagt Carbon am Telefon.

ASMR und Mukbang: Was hinter dem Youtube-Hype steckt (2)

Im Gegensatz zu normalen Informationsvideos bauten sich beim Anschauen von ASMR-Content ständig neue Spannungszustände auf, die sich im Laufe des Videos jedoch auflösten, erklärt der Wahrnehmungspsychologe. Diesen Zustand nennt Carbon «arousal», der direkt übersetzt Erregung bedeutet, aber nichts mit einer sexuellen Erregung zu tun habe, betont er, auch wenn in den Medien oft der Begriff «Kopforg*smus» als Reaktion auf ASMR falle.

Da der eigentlich normale Vorgang des Essens in den Videos als hoch ästhetisierte Aktivität inszeniert werde, lösten die Essgeräusche in Verbindung mit dem Visuellen spezifische Reize aus. Bei einigen Zuschauern könne dies zu Gänsehaut oder einem Kribbeln im Kopf führen. «Je öfter Sie ASMR konsumieren, umso mehr werden Sie darauf reagieren. Unser Gehirn wird konditioniert», erklärt Carbon. Darum sei es auch möglich, dass einige Menschen damit Entspannungszustände erlangten. «Die Entspannung erfolgt über die rhythmische Wiederholung, ähnlich wie bei einer Atemübung oder beim Yoga.»

Auch die haptische Wahrnehmung sei eine wichtige Komponente, die die Faszination ausmache – sie werde durch das Phänomen der multisensorischen Integration ausgelöst, erklärt Carbon. «Das Gefühl, etwas zu fühlen und zu schmecken, ist sehr wohltuend für den Betrachter», erklärt er. Da in den Videos durch die intime Atmosphäre Nähe suggeriert werde, schätzten viele User ASMR besonders. «Man darf aber auch nicht vergessen, dass diese konstruierte Nähe am Ende nur eine Illusion ist.»

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ASMR und Mukbang: Was hinter dem Youtube-Hype steckt (3)

Trend aus Korea: Mukbang gegen die Einsamkeit

«Hallo, mein Name ist Kyo Kwang», sagt der junge Mann, von dem im Video nur der Kopf mit akkurat geschnittenem Pony zu sehen ist. Den Rest des Bildschirms füllt ein orange gekochtes Krustentier samt Grünzeug aus. Kyo Kwang sagt: «Hier ist das heutige Menu: Riesen-Königskrabben-Mukbang.»

Mukbang ist Koreanisch und setzt sich zusammen aus den ersten Silben für «essen» und «senden/übertragen». So banal ist es auch tatsächlich, zumindest auf den ersten Blick: Junge Leute filmen sich beim Essen, posten es etwa auf Youtube, und andere Leute schauen zu. Sehr viele andere Leute: Hwang Kyo Kwang, wie der 24-Jährige mit vollem Namen heisst, hat fast 2,3 Millionen Abonnenten. Seinen Kanal KyoKwang TV gibt es seit 2013, seitdem wurden seine Videos laut Youtube 427 Millionen Mal angeschaut.

Im Krabbenvideo dreht Hwang dem Tier ein Bein aus, das so gross wirkt wie eine Keule; die Nahaufnahme verstärkt diesen Eindruck. Hwang löst die beiden Glieder voneinander, entnimmt der Oberschenkel-Schale einen beachtlichen Batzen Fleisch – und stopft ihn sich integral in den Mund. Dann kaut er zufrieden vor sich her, und wir dürfen ihm dabei zuschauen und zuhören. Ende Juni ging das Video online, 2,7 Millionen Mal wurde es gesehen.

Ein Treffen mit Hwang kommt wegen Corona nicht zustande, und so beantwortet er per E-Mail einige Fragen. Als er sich das erste Mal filmte, machte er noch kein Mukbang. «Ich begann mit einem Video, das mich in meinem Alltag zeigte», schreibt Hwang. Auch das ist natürlich banal, aber das sogenannte Reality-TV macht das schon lange mit Sendungen wie «Big Brother», warum sollte das also nicht auch online funktionieren?

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Als Beginn von Mukbang gelten Videos aus dem Jahr 2010 von Bloggern mit Namen wie MC Jack. Sie nutzten die südkoreanische Videoplattform Afreeca TV, die auch für Tanz-Challenges im Stil von Tiktok oder Live-Streams von Gamern bekannt ist. Ein anderer Blogger namens MC Tae-hyun soll dann erstmals das zusammengesetzte Wort Mukbang ausgesprochen haben, als er sich beim Grillieren von Schweinebauch filmte.

Der damals neue Trend kam Hwang entgegen. «Ich habe begonnen, mich beim Essen zu filmen, weil ich gern esse.» Zunächst einfach so, ohne viel Aufwand. Als Hwang merkte, dass die Leute Mukbang mögen, bot er ihnen genau das – aufwendiger inszenierte Essvideos. Angebot und Nachfrage, so einfach funktioniert Social Media.

Nur, warum schauen die Leute sich so etwas Banales an? Dafür gibt es viele Erklärungen. Immer mehr Südkoreaner leben alleine, Singles stellen fast 40 Prozent aller Haushalte. Zudem ist Essen für Südkoreaner sehr wichtig. Viele machen ihr eigenes Kimchi, den eingelegten, pikanten Chinakohl. Die Fernsehsender zeigen unzählige Essenssendungen – klassische Kochshows und vor allem Besuche auf Märkten und in Restaurants im ganzen Land. Die Restaurants wiederum hängen Screenshots ihrer Auftritte neben den Eingang, wie ein Gütesiegel.

Mukbang lohnt sich: Youtuber verdienen Millionen

Dazu kommt: Einzelgänger sieht man selten in Südkorea. So klischiert das erscheinen mag, die Gruppe, das Kollektiv sind wichtig. Es geht auch praktisch niemand alleine essen, vor allem am Abend nicht. Es ist auch gar nicht vorgesehen: Die populären Tischgrills etwa teilt man sich mindestens zu zweit. Viele Restaurants haben gar keine Portionen für eine Person auf ihrer Karte und weisen solche Gäste ab.

All das lässt es plötzlich ziemlich logisch erscheinen, dass Leute allein daheim vor ihrem Computer anderen beim Essen zuschauen, womöglich sogar gleichzeitig essen. Eine Meta-Studie von 11 wissenschaftlichen Studien und 20 Zeitungsartikeln kam zu dem Schluss, dass Mukbang Gefühle von Einsamkeit und sozialer Isolation reduzieren könne und dass Leute die Videos auch aus sexuellen Gründen und aus Eskapismus schauten. In einer anderen, nichtrepräsentativen Umfrage unter 380 Studenten an einer südkoreanischen Universität sagten fast zwei Drittel, dass sie Mukbang schauten.

Damit lässt sich eine Menge Geld machen. Einer der erfolgreichsten Kanäle, Jane ASMR mit fast 11 Millionen Abonnenten, soll 2019 nach Schätzungen umgerechnet gut 4,5 Millionen Franken eingenommen haben. Ein 30 Jahre alter Mukbanger mit dem Pseudonym Dickhunter erklärt auf Anfrage, er verdiene pro Video umgerechnet zwischen 160 und 800 Franken, bei 1,2 Millionen Abonnenten. Ein 10- bis 15-minütiges Video benötige etwa drei Tage Arbeit, vom Auswählen des Essens über das Filmen und Schneiden bis zum Übersetzen für die englischen Untertitel. Bis zu 800 Franken an drei Tagen – für junge Südkoreaner ist das ein sehr attraktives Einkommen.

Kann ASMR wirklich helfen?

Auch der Berliner «ASMRtist» Hodel sieht das Potenzial bei der asiatischen Community und möchte demnächst mehr Inhalte für japanische und koreanische Zuschauer anbieten. «Langsam wird es auch etwas langweilig mit der deutschen Küche», sagt der 34-Jährige, der bisher vor allem typische deutsche Gerichte und Street-Food vor der Kamera gegessen hat. Von einigen Usern bekomme er auch negative Kommentare, sagt er. «Manche sind abwertend oder aggressiv. Die lösche ich dann.» Das meiste Feedback sei aber positiv, manche Fans erzählten ihm, dass er ihnen mit den Videos helfe oder sie sich unterhalten fühlten.

Auf manche Menschen kann ASMR eine positive Wirkung haben, so der Experte Carbon. Um den vollen Effekt zu spüren, müsse man sich aber ganz auf die Geräuschkulisse einlassen. Das kann nicht jeder. Das Phänomen ASMR ist längst auch in der Wirtschaft angekommen und wird für Marketingzwecke eingesetzt. So wirbt ein grosser deutscher Baumarkt mit einem ASMR-Video, in dem jemand mit den Händen über Teichfolie streicht, und eine beliebte Fast-Food-Kette will mit Sounds, die Burger und Pommes frites beim Essen produzieren, den Appetit der Zuhörer anregen.

Und, klappt es bei Ihnen? Sind Sie jetzt hungrig?

Auflösung ASMR-Quiz: Apfel, Chips, Würstchen.

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Claudia Rey, Text; Christoph Ruckstuhl, Bilder

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